2020
Sie stehen lapidar in der Gegend herum und gucken verwirrt aus der Wäsche. Man begegnet ihnen im Supermarkt oder auf der Straße – in der U-Bahn eher selten, denn sie hasten nicht, sondern sie haben sich einfach im Hier und Jetzt aufgepflanzt, mit beiden Beinen fest am Boden.
Es sind keine schicken Opern- oder Vernissagengäste, keine Anzugträger- oder Businesskostümtypen, die Leo Mayr aus Ton modelliert. Ihr Jahreseinkommen bewegt sich wahrscheinlich nicht im sechs-, sondern eher im niedrigen fünfstelligen Bereich, und manche von ihnen sind wohl froh, wenn es nicht darunter geht. Sie gehören zu jenen Leuten, aus denen die europäische Gesellschaft großteils besteht: Jenen, die sich mehr oder weniger durch ihr Leben kämpfen, die froh sind, wenn sie einmal im Jahr auf Urlaub fahren oder sich freuen, wenn sie sich eine Hose mit Leoprint kaufen können, die beim Lebensmitteleinkauf lieber zu den vergünstigten Produkten greifen und sich am Viktor-Adler-Markt in Wien-Favoriten mit Jogginganzügen um 20 Euro ausstaffieren. Es sind Menschen, die in den Medien kaum vorkommen, außer vielleicht in Statistiken, den Straßenbefragungen der „Zeit im Bild“ oder den „Alltagsgeschichten“ der 2019 verstorbenen Fernsehjournalistin Elisabeth T. Spira. Wie kann es sein, dass der Großteil der Bevölkerung so schlecht repräsentiert ist? Handelt es sich bei ihnen nicht um die vielbeschworene Mitte?
Leo Mayr formt seine Figuren summarisch und schlicht; er verzichtet weitgehend auf Details, betont aber plakativ Marken und Accessoires. Seine Männer und Frauen tragen Taschen, Supermarkt-Sackerl, Band-T-Shirts, einen H.-C.-Strache-Teddybär – wie Heiligenfiguren ihre Attribute. Wenn der Künstler loszieht und auf Bahnhöfen oder Märkten Menschen beobachtet, dann skizziert er in einem kleinen Notizbuch Details als Erinnerungsstützen. Häufig sind es Logos und Marken, Ausdruck eines „globalisierten Kapitalismus, der alle gleich wirken lässt und einen Zwiespalt zwischen Realität und Wunsch offenbart“, wie er sagt.
In seiner seiner epochalen Analyse „Die feinen Unterschiede“ schreibt Pierre Bourdieu: „Es wäre verfehlt zu meinen, das Distinktion, also Unterschiede setzende Verhalten (in dem eine bewusste Absicht, sich von der Allgemeinheit abzusetzen, impliziert sein mag oder nicht) sei ein bloß beiläufig mitwirkendes Moment der ästhetischen Disposition.“ Was sich bei Bourdieu vor allem auf die Rezeption von Kunst bezog, lässt sich auch auf das Tragen von Slipknot-Hauben anwenden. Indem Leo Mayr Logos, Brands und Outfits hervorhebt, betont er ihren Charakter als bewusste Setzung durch seine Protagonist*innen.
Wenn August Sander mit seinen „Menschen des 20. Jahrhunderts“ einen Querschnitt durch die Bevölkerung anhand ihrer Professionen zu ziehen versuchte, so zeigt Leo Mayr einen solchen durch das sogenannte „Kleinbürgertum“. Dieser Begriff wird quer durch die politischen Lager und kulturellen Schichten abwertend gebraucht; Intellektuelle erheben sich über diese Gesellschaftsschicht ebenso gern wie Kunstschaffende. Im Gegensatz zu jenen, deren Großskulpturen die Kleinbürger*innen ausspotten, richtet Leo Mayr einen liebevollen Blick auf die sogenannten „kleinen Leute“. Und das in einem Genre, das ebenso despektierlich als „Kleinskulptur“ bezeichnet wird: Seine Figuren sind meist zwischen 30 und 60 Zentimeter hoch. Das unterscheidet sie von ihren überdimensionalen oder lebensgroßen Verwandten, wie sie etwa Duane Hanson und manchmal auch Stephan Balkenhol herstellen.
Erscheinen seine Figuren, die häufig nach ihren Attributen betitelt sind, aus ihrer Umgebung katapultiert, so entfalten sich in seinen Zeichnungen und Gemälden ganze Szenerien. Und was für welche! Häufig sind es fantastische Begegnungen, manchmal inspiriert von kunsthistorischen Sujets, auf die der Künstler in Museen gestoßen ist. Hier steht niemand mit den Beinen fest am Boden, sondern hier passiert das Unmögliche und Rätselhafte — Katzen rauchen überdimensionale Pfeifen, Menschen sammeln sich zu mysteriösen Zusammenkünften im Wald, ein Paar schaut zu, wie aus einer schwarzen Kiste Gewölk entweicht.
Es sind die absurden, surrealen Gegenwelten zu jener Realität, die Mayrs Figuren bewohnten, bevor der Künstler sie ihr entrissen hat.
2020
Sie stehen lapidar in der Gegend herum und gucken verwirrt aus der Wäsche. Man begegnet ihnen im Supermarkt oder auf der Straße – in der U-Bahn eher selten, denn sie hasten nicht, sondern sie haben sich einfach im Hier und Jetzt aufgepflanzt, mit beiden Beinen fest am Boden.
Es sind keine schicken Opern- oder Vernissagengäste, keine Anzugträger- oder Businesskostümtypen, die Leo Mayr aus Ton modelliert. Ihr Jahreseinkommen bewegt sich wahrscheinlich nicht im sechs-, sondern eher im niedrigen fünfstelligen Bereich, und manche von ihnen sind wohl froh, wenn es nicht darunter geht. Sie gehören zu jenen Leuten, aus denen die europäische Gesellschaft großteils besteht: Jenen, die sich mehr oder weniger durch ihr Leben kämpfen, die froh sind, wenn sie einmal im Jahr auf Urlaub fahren oder sich freuen, wenn sie sich eine Hose mit Leoprint kaufen können, die beim Lebensmitteleinkauf lieber zu den vergünstigten Produkten greifen und sich am Viktor-Adler-Markt in Wien-Favoriten mit Jogginganzügen um 20 Euro ausstaffieren. Es sind Menschen, die in den Medien kaum vorkommen, außer vielleicht in Statistiken, den Straßenbefragungen der „Zeit im Bild“ oder den „Alltagsgeschichten“ der 2019 verstorbenen Fernsehjournalistin Elisabeth T. Spira. Wie kann es sein, dass der Großteil der Bevölkerung so schlecht repräsentiert ist? Handelt es sich bei ihnen nicht um die vielbeschworene Mitte?
Leo Mayr formt seine Figuren summarisch und schlicht; er verzichtet weitgehend auf Details, betont aber plakativ Marken und Accessoires. Seine Männer und Frauen tragen Taschen, Supermarkt-Sackerl, Band-T-Shirts, einen H.-C.-Strache-Teddybär – wie Heiligenfiguren ihre Attribute. Wenn der Künstler loszieht und auf Bahnhöfen oder Märkten Menschen beobachtet, dann skizziert er in einem kleinen Notizbuch Details als Erinnerungsstützen. Häufig sind es Logos und Marken, Ausdruck eines „globalisierten Kapitalismus, der alle gleich wirken lässt und einen Zwiespalt zwischen Realität und Wunsch offenbart“, wie er sagt.
In seiner seiner epochalen Analyse „Die feinen Unterschiede“ schreibt Pierre Bourdieu: „Es wäre verfehlt zu meinen, das Distinktion, also Unterschiede setzende Verhalten (in dem eine bewusste Absicht, sich von der Allgemeinheit abzusetzen, impliziert sein mag oder nicht) sei ein bloß beiläufig mitwirkendes Moment der ästhetischen Disposition.“ Was sich bei Bourdieu vor allem auf die Rezeption von Kunst bezog, lässt sich auch auf das Tragen von Slipknot-Hauben anwenden. Indem Leo Mayr Logos, Brands und Outfits hervorhebt, betont er ihren Charakter als bewusste Setzung durch seine Protagonist*innen.
Wenn August Sander mit seinen „Menschen des 20. Jahrhunderts“ einen Querschnitt durch die Bevölkerung anhand ihrer Professionen zu ziehen versuchte, so zeigt Leo Mayr einen solchen durch das sogenannte „Kleinbürgertum“. Dieser Begriff wird quer durch die politischen Lager und kulturellen Schichten abwertend gebraucht; Intellektuelle erheben sich über diese Gesellschaftsschicht ebenso gern wie Kunstschaffende. Im Gegensatz zu jenen, deren Großskulpturen die Kleinbürger*innen ausspotten, richtet Leo Mayr einen liebevollen Blick auf die sogenannten „kleinen Leute“. Und das in einem Genre, das ebenso despektierlich als „Kleinskulptur“ bezeichnet wird: Seine Figuren sind meist zwischen 30 und 60 Zentimeter hoch. Das unterscheidet sie von ihren überdimensionalen oder lebensgroßen Verwandten, wie sie etwa Duane Hanson und manchmal auch Stephan Balkenhol herstellen.
Erscheinen seine Figuren, die häufig nach ihren Attributen betitelt sind, aus ihrer Umgebung katapultiert, so entfalten sich in seinen Zeichnungen und Gemälden ganze Szenerien. Und was für welche! Häufig sind es fantastische Begegnungen, manchmal inspiriert von kunsthistorischen Sujets, auf die der Künstler in Museen gestoßen ist. Hier steht niemand mit den Beinen fest am Boden, sondern hier passiert das Unmögliche und Rätselhafte — Katzen rauchen überdimensionale Pfeifen, Menschen sammeln sich zu mysteriösen Zusammenkünften im Wald, ein Paar schaut zu, wie aus einer schwarzen Kiste Gewölk entweicht.
Es sind die absurden, surrealen Gegenwelten zu jener Realität, die Mayrs Figuren bewohnten, bevor der Künstler sie ihr entrissen hat.