2022
„Meine Leit“ sagt Leo über die drei Skulpturengruppen, deren Dokumentation wir uns gerade auf seinem Telefon anschauen. Wir sitzen im Wiener Kaffee Weidinger, es ist 18 Uhr und ich löchere Leo mit Fragen, weil ich diesen Text vorbereite.
Leo und ich haben einige Jahre zusammen an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert, deswegen ist Leo meine Ansprache für ihn, statt sein voller Name Leo Mayr.
Wir unterhielten uns das erste mal ausführlicher in der Druckwerkstatt bei einer Kaltnadel-Radierung: Leo zeichnete freihändig ein Figurenensemble auf eine große Kupferplatte, während ich in meine Zinkplatte unzählige kleine Linien kratzte. Wir kamen jeweils von woanders her – nicht nur sehr konkret in dieser Situation – ich aus der Videoklasse und Leo vom Lehramt, sondern auch, was unseren Hintergrund ganz grundsätzlich betraf.
Gesellschaftlich gesehen kamen wir aus anderen Milieus, das wussten wir beide, ohne es je erwähnt zu haben. Und Leos Figuren hatten viel mit dem Milieu zu tun, das ihn geprägt hatte. Das konnte ich damals noch nicht sehen, dazu wusste ich zu wenig von Leo und seinen Figuren, „seinen Leit“ und ich vermute, Leo wusste noch nicht so genau, dass sich das zum Thema seiner Arbeit entwickeln würde.
Die ersten Arbeiten, die ich erinnere, waren viele kleine Zeichnungen, oft quadratisch, und es brannten immer Autos. Schwarze Konturen, fröhliche Farben; aber es brannte an jeder Ecke. Und dann, ein zwei Jahre später, die erste Figur: Zu Studiozwecken für seine Zeichnungen und Malereien, wie er damals meinte. Er wollte seine Figuren dreidimensional sehen können, wenn er sie zeichnet. Ich glaube einen viel unprätentiöseren Grund, Skulpturen zu machen, gibt es kaum.
Leo ist bei dieser Praxis aus Druckgrafik, Zeichnung, Malerei und Skulptur geblieben. Er hat in den letzten Jahren – aus meiner Sicht – „unzählige“ Figuren gemacht; gemacht ist eine Krücke, um nichterschaffen schreiben zu müssen, was so unzeitgemäß wirkt, in Leos Fall aber viel präziser wäre.
Und wen erschafft er? Wer steht uns da gegenüber? Wer sind diese kleinen Figuren, die allesamt recht kantig vor uns stehen? Denn eines kann man von ihnen allen sagen– zart bzw. hager, durchtrainiert und selbstoptimiert wirken sie nicht. Obwohl „Yoga Girl“, ein Mädchen mit Yogamatte – unter der Gruppenbezeichnung „Hütteldorfer Straße“ – vielleicht am Weg zu ihrer Yogaklasse war, als Leo sie einfing, ist auch ihr Erscheinungsbild wenig zierlich. Damit ist nicht viel über „Yoga-Girl“ gesagt, aber über Leos Figuren als Skulpturen: Sie bilden nicht überspitz formulierte Stereotypen ab, sondern sind allesamt wie eine Variation ein und der selben Figur – eine sehr ähnliche Statur zeichnet alle Figuren, ob Transperson, Mann oder Frau, aus.
Wer steht uns da also gegenüber: „Leos Leit“ – das heißt, seine Übersetzung von der Welt, die ihn umgibt, in Ton. Und so sehr man versucht ist, August Sanders Fotoprojekt als Ahne von Leos Skulpturen zu sehen, trennt die beiden doch, bis auf das Interesse für Gesellschaftsschichten und deren Ordnung, nahezu alles.
August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ sind Ergebnis einer Kartografie der auf Veräußerung der eigenen Arbeitskraft beruhenden Gesellschaft – sprich Arbeiterinnen und Arbeiter. Sanders dokumentiert Arbeitsgruppen und schiebt den Apparat zwischen sich und die Porträtierten, so dass seine eigene Anwesenheit vergessen gemacht werden kann. Diese Subtraktion der erzählenden Figur finden wir in Leos Arbeit genauso wenig, wie ein Verzeichnis von Berufen, also ein Abbild zu einem präexistenten Begriff von Arbeit.
Mir kommen also weniger Sanders genormte Porträts in den Sinn, wenn ich versuche, Leos Figuren Verwandte anzudichten, als die eigenwilligen Aufnahmen von Judith Joy Ross (ebenfalls b/w Fotografen, also formal nicht so weit weg von Sanders). Die Porträtierten blicken mit einer so bestechenden Individualität aus dem Bild, dass man für einen Moment das Gefühl entwickelt, sie zu ihren Lebzeiten gekannt zu haben. Es ist aber die Beziehung J.-J.-Ross‘ zu den Menschen vor der Kamera, die wir hier sehen und die uns durch ihre Unmittelbarkeit zu verblüffen vermag. Und es ist die Beziehung von Leo zu den Figuren, die er in seinem Alltag beobachtet, die wir in den Skulpturen wahrnehmen.
Der Respekt und die Aufgeschlossenheit, mit der Leo ihnen (wie mir) begegnet, schlägt sich im Ton nieder. Was Leos Figuren aber von Sanders Portraits unterscheidet, ist der dokumentierte Arbeitsbegriff. Dass sie, wie J.-J.-Ross Porträtierte, individuell wirken, mag vor allem daran liegen, dass sie nicht, wie Sanders Figuren in Fords Fabrik gehen, sondern als postfordistische Arbeiter*innen zur Selbstexpression angehalten sind. Mark Fisher erinnert uns in einem seiner späten Aufsätze daran, was der Postfordismus ist: Eine aus den Wünschen der Arbeiter*innen gebildete Dystopie. „So you wish to be free from boredom – capital will give you a world of perpetual anxiety and uncertainty. So you wish to overthrow the bureucracy of the welfare state – welcome to a world deprived of security and dominated by corporations. So you do not want to be alienated at work . Well, your work will now be a creative process, without limits, that calls upon all aspects of your being.“
Wir sehen „Leos Leit“ und damit seinen Blick auf diese verwunschene Gesellschaftsform.
2022
„Meine Leit“ sagt Leo über die drei Skulpturengruppen, deren Dokumentation wir uns gerade auf seinem Telefon anschauen. Wir sitzen im Wiener Kaffee Weidinger, es ist 18 Uhr und ich löchere Leo mit Fragen, weil ich diesen Text vorbereite.
Leo und ich haben einige Jahre zusammen an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert, deswegen ist Leo meine Ansprache für ihn, statt sein voller Name Leo Mayr.
Wir unterhielten uns das erste mal ausführlicher in der Druckwerkstatt bei einer Kaltnadel-Radierung: Leo zeichnete freihändig ein Figurenensemble auf eine große Kupferplatte, während ich in meine Zinkplatte unzählige kleine Linien kratzte. Wir kamen jeweils von woanders her – nicht nur sehr konkret in dieser Situation – ich aus der Videoklasse und Leo vom Lehramt, sondern auch, was unseren Hintergrund ganz grundsätzlich betraf.
Gesellschaftlich gesehen kamen wir aus anderen Milieus, das wussten wir beide, ohne es je erwähnt zu haben. Und Leos Figuren hatten viel mit dem Milieu zu tun, das ihn geprägt hatte. Das konnte ich damals noch nicht sehen, dazu wusste ich zu wenig von Leo und seinen Figuren, „seinen Leit“ und ich vermute, Leo wusste noch nicht so genau, dass sich das zum Thema seiner Arbeit entwickeln würde.
Die ersten Arbeiten, die ich erinnere, waren viele kleine Zeichnungen, oft quadratisch, und es brannten immer Autos. Schwarze Konturen, fröhliche Farben; aber es brannte an jeder Ecke. Und dann, ein zwei Jahre später, die erste Figur: Zu Studiozwecken für seine Zeichnungen und Malereien, wie er damals meinte. Er wollte seine Figuren dreidimensional sehen können, wenn er sie zeichnet. Ich glaube einen viel unprätentiöseren Grund, Skulpturen zu machen, gibt es kaum.
Leo ist bei dieser Praxis aus Druckgrafik, Zeichnung, Malerei und Skulptur geblieben. Er hat in den letzten Jahren – aus meiner Sicht – „unzählige“ Figuren gemacht; gemacht ist eine Krücke, um nichterschaffen schreiben zu müssen, was so unzeitgemäß wirkt, in Leos Fall aber viel präziser wäre.
Und wen erschafft er? Wer steht uns da gegenüber? Wer sind diese kleinen Figuren, die allesamt recht kantig vor uns stehen? Denn eines kann man von ihnen allen sagen– zart bzw. hager, durchtrainiert und selbstoptimiert wirken sie nicht. Obwohl „Yoga Girl“, ein Mädchen mit Yogamatte – unter der Gruppenbezeichnung „Hütteldorfer Straße“ – vielleicht am Weg zu ihrer Yogaklasse war, als Leo sie einfing, ist auch ihr Erscheinungsbild wenig zierlich. Damit ist nicht viel über „Yoga-Girl“ gesagt, aber über Leos Figuren als Skulpturen: Sie bilden nicht überspitz formulierte Stereotypen ab, sondern sind allesamt wie eine Variation ein und der selben Figur – eine sehr ähnliche Statur zeichnet alle Figuren, ob Transperson, Mann oder Frau, aus.
Wer steht uns da also gegenüber: „Leos Leit“ – das heißt, seine Übersetzung von der Welt, die ihn umgibt, in Ton. Und so sehr man versucht ist, August Sanders Fotoprojekt als Ahne von Leos Skulpturen zu sehen, trennt die beiden doch, bis auf das Interesse für Gesellschaftsschichten und deren Ordnung, nahezu alles.
August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ sind Ergebnis einer Kartografie der auf Veräußerung der eigenen Arbeitskraft beruhenden Gesellschaft – sprich Arbeiterinnen und Arbeiter. Sanders dokumentiert Arbeitsgruppen und schiebt den Apparat zwischen sich und die Porträtierten, so dass seine eigene Anwesenheit vergessen gemacht werden kann. Diese Subtraktion der erzählenden Figur finden wir in Leos Arbeit genauso wenig, wie ein Verzeichnis von Berufen, also ein Abbild zu einem präexistenten Begriff von Arbeit.
Mir kommen also weniger Sanders genormte Porträts in den Sinn, wenn ich versuche, Leos Figuren Verwandte anzudichten, als die eigenwilligen Aufnahmen von Judith Joy Ross (ebenfalls b/w Fotografen, also formal nicht so weit weg von Sanders). Die Porträtierten blicken mit einer so bestechenden Individualität aus dem Bild, dass man für einen Moment das Gefühl entwickelt, sie zu ihren Lebzeiten gekannt zu haben. Es ist aber die Beziehung J.-J.-Ross‘ zu den Menschen vor der Kamera, die wir hier sehen und die uns durch ihre Unmittelbarkeit zu verblüffen vermag. Und es ist die Beziehung von Leo zu den Figuren, die er in seinem Alltag beobachtet, die wir in den Skulpturen wahrnehmen.
Der Respekt und die Aufgeschlossenheit, mit der Leo ihnen (wie mir) begegnet, schlägt sich im Ton nieder. Was Leos Figuren aber von Sanders Portraits unterscheidet, ist der dokumentierte Arbeitsbegriff. Dass sie, wie J.-J.-Ross Porträtierte, individuell wirken, mag vor allem daran liegen, dass sie nicht, wie Sanders Figuren in Fords Fabrik gehen, sondern als postfordistische Arbeiter*innen zur Selbstexpression angehalten sind. Mark Fisher erinnert uns in einem seiner späten Aufsätze daran, was der Postfordismus ist: Eine aus den Wünschen der Arbeiter*innen gebildete Dystopie. „So you wish to be free from boredom – capital will give you a world of perpetual anxiety and uncertainty. So you wish to overthrow the bureucracy of the welfare state – welcome to a world deprived of security and dominated by corporations. So you do not want to be alienated at work . Well, your work will now be a creative process, without limits, that calls upon all aspects of your being.“
Wir sehen „Leos Leit“ und damit seinen Blick auf diese verwunschene Gesellschaftsform.